Gentherapie: Riskantes Heilversprechen

[img_assist|nid=87|title=|desc=|link=none|align=right|width=100|height=43]Der Begriff »Gentherapie« steht für die gentechnische Veränderung von Körperzellen zu therapeutischen Zwecken. Sämtliche Gentherapien sind derzeit noch Versuche am Menschen, bei denen die Durchführbarkeit erprobt und toxische Effekte ausgeschlossen werden sollen. Um Behandlung geht es bislang nicht, und GentherapeutInnen betonen, dass noch niemand geheilt worden ist. Neue Erfahrungen aus den USA zeigen zudem, dass das gentherapeutische Heilversprechen auch eine tödliche Gefahr für die Versuchspersonen bedeuten kann.

Grundsätzlich müssen bei einem Gentherapieversuch mehrere wissenschaftliche Fragen beantwortet werden. Mit welchen Abschnitten der Desoxyribonukleinsäure (DNA) sollen welche Organe und/oder Gewebe gentechnisch verändert werden? Wie soll die neue DNA in die Zellen gelangen, ohne diese zu schädigen? Wie soll sie im Zellkern verbleiben, ohne dass sie Schaden anrichtet oder schnell wieder verloren geht? Und wie soll sie reguliert werden, damit das von ihr gebildete Genprodukt keinen schädlichen Effekt hervorruft?

Rund 400 Studien sind bekannt

Gentherapieversuche bei Tumorerkrankungen können einen Teil dieser Fragen anders beantworten als Versuche zur Behandlung genetisch bedingter Erkrankungen. Während bei genetisch bedingten, chronischen Erkrankungen die Menschen dauerhaft geheilt werden sollen, ist bei Tumorbehandlungen ein kurzfristiger, zerstörerischer Effekt erwünscht. Dies mag ein Grund dafür sein, dass sich zwei Drittel der bis dato etwa 400 bekannt gewordenen Gentherapiestudien mit Tumoren beschäftigen.
Nur in wenigen Fällen können die Körperzellen entnommen und im Reagenzglas verändert werden. Anschließend werden nur die veränderten Zellen wieder injiziert. Dies ist zum Beispiel bei Blut und Tumorzellen möglich. In anderen Fällen muss die gentechnische Veränderung jedoch im Körper stattfinden. Da die Zellen nicht freiwillig DNA aufnehmen, greifen GentherapeutInnen auf Viren zurück, die von sich aus Zellen infizieren und ihr Genom einbringen. Auf diesem Weg können sie auch fremde DNA in die Zellen transportieren. Hierfür werden vor allem zwei Arten von Viren verwendet: mehr als ein Drittel der Versuche werden mit Retroviren wie Herpes simplex durchgeführt, knapp 20 Prozent mit Adenoviren, den so genannten Schnupfenviren.

Verunsicherung in der Gentherapie-Gemeinde

Retroviren binden ihr Genom dauerhaft in das Genom der von ihnen infizierten Zellen. Allerdings lässt sich nicht vorhersagen, wo dies geschieht und welche DNA-Abschnitte damit gestört werden. Als Folge einer solchen »Insertationsmutagenese« kann zum Beispiel eine erhöhte Tumorbildung stattfinden. Bei Adenoviren entsteht diese Gefahr nicht. Gentechnisch verändert, sollen sie ihr Genom nur in den Zellkern einbringen, ohne sich weiter replizieren zu können. Die gentechnisch eingefügte DNA bleibt sozusagen im Zellkern liegen und kann dort abgelesen und in Proteine umgesetzt werden. Allerdings geht diese DNA spätestens bei der nächsten Zellteilung verloren. Eine solche Gentherapie müsste deshalb im Abstand einiger Wochen oder Monate wiederholt werden, wobei mit einer zunehmenden Resistenz des menschlichen Körpers gegen die Viren gerechnet werden muss.
Grundsätzlich müssen sehr viele Viren eingesetzt werden, um tatsächlich einen erkennbaren Erfolg zu erzielen. Versuche mit Mukoviszidose-PatientInnen wurden 1995 beendet, da viel zu wenig DNA in die Zellen gelangte, um einen Effekt erzielen zu können – und dies, obwohl die anvisierten Schleimhautzellen diejenigen Zellen sind, die am leichtesten von Schnupfenviren infiziert werden. Hierbei waren bereits so große Dosen von Adenoviren eingesetzt worden, dass zumindest eine der PatientInnen an einer Lungenentzündung erkrankte.
Zur Verunsicherung in der Gentherapie-Gemeinde hat ein Todesfall geführt, der Ende Oktober 1999 in den USA bekannt geworden ist. Ziel dieser Versuche, bei denen ebenfalls Adenoviren eingesetzt wurden, war es, die Leberzellen von Menschen mit Orinthintranscarbamylase (OTC)-Mangel so zu verändern, dass sie das fehlende oder in zu geringer Menge gebildete Enzym OTC verstärkt bilden würden. Insgesamt 18 ProbandInnen mit leichten Formen des OTC-Mangels waren die transgenen Adenoviren direkt in die Ader, die in die Leber führt, injiziert worden. Aufgeteilt in sechs Gruppen erhielten die VersuchsteilnehmerInnen unterschiedlich große Virenkonzentrationen. Die ersten 17 Personen zeigten die bei Versuchen mit Adenoviren üblichen Nebenwirkungen wie Fieber und Schmerzen, ohne dass sich Unterschiede in der Dosis-Wirkung-Beziehung zeigten. Jesse Gelsinger, dem als letzter Proband mehrere Milliarden Viren gespritzt wurden, starb jedoch innerhalb von vier Tagen an Multiorganversagen. Die zuständigen WissenschaftlerInnen wurden sofort suspendiert, dieser und ein ähnlicher Versuch gestoppt, und derzeit untersucht eine Kommission die Vorgänge, um der zuständigen Behörde noch in diesem Jahr Bericht zu erstatten. Eine erste Einschätzung kommt zu einem erschreckenden Ergebnis: Für den tödlichen Verlauf gab es vorher keine Anzeichen.

Die Auswahl der Versuchspersonen

Im November kamen sechs weitere Todesfälle von Versuchspersonen in den USA ans Tageslicht. In zwei konkurrierenden Studien war die gentechnisch angeregte Bildung von neuen Adern erprobt worden. Sie sollen Bypass-Operationen bei Herzinfarkt-PatientInnen ersetzen. In einer Gruppe starben zwei Menschen, in der anderen vier. Die Versuchsleiter meldeten die Fälle jeweils nur einer der beiden Aufsichtsbehörden - mit der Bitte, die Angaben nicht zu veröffentlichen. Sie betonten, die Todesfälle ständen nicht im direkten Zusammenhang mit den Gentherapie-Experimenten, sondern seien durch die bereits bestehenden Erkrankungen verursacht worden.
Dies zeigt zwei Fragen zu Humanexperimenten auf: die Kontrolle der Versuche und die Auswahl der ProbandInnen. In den USA liegt die Kontrolle von Gentherapieversuchen bei den Behörden NIH und FDA. Ihnen sollen alle unerwarteten (Neben-)Wirkungen der Versuche gemeldet werden, um gegebenenfalls aus Einzelfällen verschiedener Versuche ein Gesamtbild über Versuchsrisiken bilden zu können. Zunehmend werden Gentherapiestudien auch privat finanziert und unterliegen nur teilweise der Kontrolle. Vor allem aber kann es sich kaum ein Versuchsleiter leisten, Ergebnisse zu melden, die vielleicht zur Unterbrechung seiner Versuche führen könnten; weder wenn davon eine Börsennotierung der entsprechenden Biotech-Firma betroffen ist, noch wenn mehrere Arbeitsgruppen um den gleichen Markt konkurrieren.
Die Auswahl der ProbandInnen dagegen ist ein ethisches Problem. Sicherlich lässt sich die Behandlung einer Krankheit nur an Erkrankten ausprobieren. Bei Phase-1-Versuchen sollen jedoch Durchführbarkeit und mögliche Toxizität untersucht werden, nicht aber eine Behandlung. Medizinische Ethik gebietet es, Versuche nicht mit denjenigen durchzuführen, die im Grunde nicht freiwillig an einem Versuch teilnehmen, sondern weil die Studie ihnen ein bißchen, wenn auch häufig ungerechtfertigte, Hoffnung verspricht. Viele der Versuche, insbesondere die zur Behandlung von Tumoren, werden aber gerade an »austherapierten« PatientInnen durchgeführt, also an Menschen, bei denen etablierte Behandlungsmethoden erfolglos geblieben waren.
Bei genetisch bedingten Krankheiten werden vielfach auch Kinder zu Versuchspersonen. Die Motivation der Eltern ist vielfältig und sicherlich von Hoffnung und gutem Willen geprägt, zum Teil aber auch von finanzieller Not. 1993 wurde an drei Neugeborenen mit ADA-Mangel ein Gentherapieversuch durchgeführt. Die Daten des Vorläufer-Versuches an zwei 4- und 9-jährigen Mädchen waren damals noch nicht veröffentlicht. Ein Elternpaar gab an, dass die medizinische Behandlung des Neugeborenen und seines ebenfalls an ADA-Mangels erkrankten Bruders wegen der Höchstgrenze ihrer Krankenversicherung nur noch für einige Jahre gesichert sei. Ihnen erschien die Teilnahme am Gentherapieversuch als Alternative zu unbezahlbaren Medikamenten.

»Mut und Selbstlosigkeit«

Wenn der verstorbene Proband Jesse Gelsinger jetzt von den zuständigen WissenschaftlerInnen für seinen »Mut und seine Selbstlosigkeit« gepriesen wird, dann wirft sein Tod nicht nur naheliegende Fragen über die Sicherheit von Gentherapien auf. Zu hinterfragen ist auch das medizinisch-wissenschaftliche und ökonomische System, das von Heilversprechen und Versuchen mit Menschen lebt.

A. Lorch, BioSkop 8 December 1999